2.4.1 Der Dualismus in der Gnosis

Die Radikalität des gnostischen Dualismus lässt sich illustrieren anhand der mythologischen Beschreibung der Sphären und deren Entstehung wie sie sich – mit Variationen bei den einzelnen Strömungen – aus den Quellen ergibt1. Die Welt wurde nicht direkt von Gott geschaffen, sondern von abtrünnigen finsteren Mächten, meistens dem Demiurgen (der nicht zu verwirren ist mit dem Demiurgen aus Platons Timaeos). Am Anfang war nicht das autonome Wort, sondern ein Missgeschick, eine Drama des Wissensverlustes, worin sich die 'Gottheit'2 aufspaltete und woraus die finsteren Mächte hervorgingen, die dann die Welt schufen aus Eifersucht um die Menschen – die ja einen Funken göttlichen Pneumas in sich tragen3 – darin einzukerkern. Die Welt wurde also aus einem Mangel an Wissen geschaffen.
Das materielle Universum wird beherrscht durch die Archonten, die Planetengötter. Gemäß der Anzahl damals bekannten Planeten4 gab es sieben Sphären die konzentrisch geschichtet über der Erde existierten. Jenseits dieser Sphären lag eine achte Zwischensphäre, und erst darüber wohnt Gott in dem Lichtreich, dem Pleroma. Gershom Scholem definiert das Pleroma folgendermaßen:
Pleroma ist „der Ort 'wo Gott wohnt'. Das Pleroma ist eine Welt der Vollkommenheit und der absoluten Harmonie, die sich aus einer Reihe von Wesenheiten und göttlichen Emanationen heraus entwickelt, die in der Geschichte der Gnosis unter den Namen Äonen, 'Ewigkeiten', oberste Wirklichkeiten, bekannt sind.5
Diese äußerliche Sphärenordnung, die in jedem gnostischen System variiert6, ist der realste Ausdruck des Dualismus zwischen Welt und Gott. Die Welt wird als das „Gott-Entfremdende, Gegen-Göttliche“(G I, S. 150) verstanden. Dieser Dualismus Gott-Welt wird widerspiegelt in dem Dualismus Mensch – Welt. Im Grunde geht es laut Jonas um zwei Seiten des gleichen Dualismus: der ursprüngliche Dualismus zwischen Gott und der Welt, der am Anfang des gnostischen Mythos steht, und der, der aus dem existenziellen Zustand der Entfremdung herrührt. Dass es der gleiche Dualismus ist, meint, dass in dem Menschen ein Funken Göttlichkeit anzutreffen ist. Überhaupt können die Dualismen nur so zu einer Narrative (in der Erlösungsmythos s.u.) vereinigt werden, wenn der zu entferntesten Erhabenheit heraufgewürdigte Gott zugleich einem inneren Kern im Menschen entspricht: einer urreligiösen Erfahrung der Gottähnlichkeit. Dass dieses Gefühl der Erhabenheit imstande ist, die ethischen Intuitionen zu verstümmeln und so eine Indifferenz in ethicis zu veranlassen, wird Jonas später beschäftigen und sei hier nur vorweggenommen. Einfache dialektische Logik lehrt diese 'paradoxe' Fusion des äußerst Fremden und äußerst Nahem, wie es allen mystischen Lehren zu eigen ist. Wenn ich reflektiere über das, was mir am fernsten ist, muss ich es zumindest als seiend anerkennen, ich kann ihm aber keine Eigenschaften zuschreiben. So entsteht ein 'reiner' Begriff, der mir zugleich am fernsten und am nächsten ist. Es kommt darauf an, diese dialektische Bewegung nicht als geschichtstreibenden Prozess überzubewerten, sondern sie als 'asymptotische' Grenze der Möglichkeit menschlichen Erlebens zu betrachten. Die Subtilität menschlicher Psychologie, die Vielschichtigkeit menschlicher Freiheit, die für Jonas Anlass zum Philosophieren ist, erlaubt nur diese gelockerte Auffassung von der geschichtlichen Notwendigkeit.
Wo der angestrengte Dualismus zwischen der Welt und Gott resultiert in dem gigantischen Sphärenreich mit den vielen Zwischenwesen, so geht mit der existenziellen Seite des Dualismus die gnostische Leibfeindlichkeit einher. Der Leib wird von Anfang an, und nicht erst seit dem Sündenfall, als feindlich betrachtet. Er ist eindeutig ein Grab. So heißt es in einer wichtigen Quelle: “Warum habt ihr mich von meinem Orte weg in die Gefangenschaft gebracht und in den stinkenden Körper geworfen?“7 Die Geworfenheit in den Körper lässt sich mit der Geworfenheit bei Heidegger assoziieren8, muss allerdings anders verstanden werden. Der Gnostiker würde die Geworfenheit nicht zum Wesen des menschlichen Daseins zählen, denn das ist das unantastbare Pneuma.
Bemerkenswert am gnostischen Dualismus ist, dass auch der Geist (ψυχέ) sich völlig im Bereich des irdischen, also von den finsteren Mächten Geschaffenen, befindet. Auch die Psyche ist Teil jener Fesseln womit die Archonten verhindern wollen, dass das Pneuma zur γνωσις gelangen kann und so Anspruch hat auf Erlösung wenn es beim Tod den Körper verlässt. Die Psyche ist bestimmt durch das Moralgesetz, womit die Leiber in das System eingefügt werden:
In der radikal-gnostischen Konzeption wird der Kosmos als zur Gänze 'eingeklammerter', eigenständiger und auf Gott unbezüglicher Bereich, gleichsam unangetastet in seinem inneren Bestand und Kräftesystem, als Ganzes überboten, und dies führt über ihn und seine Möglichkeiten kein Weg zu Gott (Marcion). Folgerichtig ist auch das menschliche Weltsein und mit ihm die 'ψυχέ' von vornherein und radikal verlorenes Gebiet, das keine positiven Möglichkeiten zu entwicklen vorgibt; auch die ausgezeichneten Möglichkeiten realisieren, als solche der ψυχέ, nur die ursprüngliche Weltverhaftung, sind Vollzugsweisen der kosmischen Verstrickung, deren Instrumente die ψυχέ in jedem Falle, weil ihrem Wesen nach, ist. Hier wie dort, in der anthropologischen wie in der kosmologischen Konzeption, wird der 'eingeklammerte' und überbotene Bereich einfach sich selbst überlassen. (G II, S. 25)
Das sittliche Verhalten ist dadurch völlig unwichtig9: In der Tat ist die ethische Indifferenz, die schon Plotin als ungriechisch beanstandet hat, Jonas' Kritikpunkt an der Gnosis. Die Gleichgültigkeit allem Irdischen gegenüber kann sich sowohl in Askese (wie im Manichäismus; siehe G II, S. 35-37) wie im Libertinismus auswirken (Siehe G I, S. 233ff)10. Diese 'ethischen' Lehren sind keine Verwirklichungen des griechischen αρετή-Begriffs, sondern eine Ethisierung der Entweltlichungstendenz wie sie seit der frühesten hermetischen Gnosis aufgetreten ist (G II, S. 26ff). Anders ausgedrückt: Die Menschheit trägt keinerlei Verantwortung, sie ist radikal entlastet.
Warum musste die Gnosis gerade so trennen? Warum konnte nicht mehr zumindest bei Teilen des Moralgesetzes einen göttlichen Ursprung erkannt werden und dieses Gesetz so in den Bereich des Pneuma hinüber gerettet werden? Nicht, weil die Befolgung des Moralgesetzes Schlimmes bewirken würde, wurde ihm kein göttlicher Ursprung zugestanden, sondern umgekehrt, von der Unmöglichkeit in der widergöttlichen Welt Gutes zu tun schloss man auf die Widergöttlichkeit des Moralgesetzes. Es konnte als solches nur die Psyche ansprechen, niemals das Pneuma. Die fest verankerten Vorstellung des Bösen in der Welt musste die Trennlinie so ziehen, dass der ganze Bereich des Handeln im Diesseits liegt. Die Frage von Tertullian, unde malum et quare war schon definitiv beantwortet im Mythos vom Demiurgen; darum war die Frage unde bonum et quare im Diesseits illegitim. Wenn das Phänomen des Bösen so verständlich und allgegenwärtig ist wie in der Gnosis, wird unverständlich warum wir das Gute um des Guten Willen tun sollten.
Die gnostische Daseinshaltung mag hier zusammenfassend anhand eines gnostischen Gedichtes illustriert sein:
Ein Armer bin ich, gekommen aus der Frucht [dem Pleroma, KV],
ein Entfernter, der von weit hier ist.
Ein Armer bin ich, dem das Große Leben antwortete,
ein Entfernter, den die Uthras [der Bote aus der Lichtwelt, KV] des Lichts entfernten.
Sie brachten mich aus dem Wohnort der Guten,
ach, im Wohnort der Bösen gaben sie mir Platz.
Ach, sie gaben mir Platz im Aufenthaltsort,
der ganz voller Bosheit ist.
[...]
Den Ruf der Sieben [Archonten, Planetengötter, KV] höre ich,
die da untereinander wispern und sprechen:
'Woher ist dieser fremde Mann,
dessen Rede nicht der unseren
Rede gleich ist?'
Ich hörte nicht auf ihre Rede,
da wurden sie voller schlimmer Wut auf mich.
[...]
Aber ich, meine Kinder und meine Geschlechter,
ich werde aufsteigen und den Ort des Lichtes schaun,
Den Ort, dessen Sonnen nicht untergehn
und dessen Lampen nicht finster werden,
Jenen Ort, jene Stätte,
zu der eure Seelen gerufen und geladen sind,
Und auch die Seelen unserer Brüder, der Guten,
und auch jene unserer gläubigen Schwestern.11



1G II, S. 332. Vgl. Kurt Rudolph, Die Gnosis, S. 67-74.
2In den radikalsten Dualismen kommt es zwangsläufig zu einer Unterscheidung zwischen dem Gott worüber wir aussagen machen müssen um nicht ganz in Schweigen zu verfallen, und der Gottheit die sich jedweder Aussagen entziehen muss. Diejenige Attribute, die nicht verstanden werden können wenn Gott als absolut Fremder, mitunter als Nicht-Seiender verstanden wird, werden mythologisch eingekleidet und verstreut unter den Mittelwesen. Siehe auch unten den kurzen Exkurs über die deutsche Mystik.
3Ob alle Menschen einen solchen Funken in sich tragen oder nur der s.g. pneumatikos sei dahingestellt. In diesem Zusammenhang ist die soziologische (Webersche) Deutung der Gnosis interessant, die sie zurückführen will auf elitäre Herrschaftstrukturen.
4Und auch jetzt bekannt sind seit der Entscheidung am 24. August 2006, Pluto nicht mehr zu den Planeten zu rechnen.
5G. Scholem, Ursprünge und Anfänge der Kabbala. Berlin, New York 2001, S. 60. Der Jude Scholem war eng mit Jonas befreundet. Für die biographischen Hintergründe siehe Christian Wiese, Hans Jonas. 'Zusammen Philosoph und Jude'. Frankfurt/Main 2003, sowie Jonas' Erinnerungen, Frankfurt/Main 2003.
6Siehe Hörman, Die Gnosis, 1994, S. 341ff. für bildliche Darstellungen der unterschiedlichen Systeme.
7Ginza. Der Schatz oder das Große Buch der Mandäer, S. 388. Vgl. im Thomas-Evangelium (Text aus dem Nag Hammadi Fund) Nr. 87 „Es sprach Jesus so: Elend ist der Leib, der an einem Leibe hängt, und elend ist die Seele, die an diesen beiden hängt.“ Vgl. Rechter Ginza III: „Sie stecken ihn in Schmutz / und kleiden ihn in Fleischesschimmer. / Sie stecken ihn in Schmutz / und bekleiden ihn mit einem nichtigen Gewand.“ Zitiert nach Rudoph, Die Gnosis, S. 129.
8Vgl. Sein und Zeit, S. 38ff.
9Jonas beschreibt die 'soteriologische Brüderethik, die von der diesseitigen Gesellschafsethik der Antike weltenweit absteht.' (G I, 170f): „Nicht mehr wie dort positive Gestaltung des weltlichen Miteinanderseins, das durch die gemeinsamen innerweltlichen Interessen vermittelt wird, und als letzter Sinn dieser Gestaltung die Eingliederung des Menschen in den Kosmos, sondern, unter Überspringung der ganzen diesseitigen Sphäre und ihrer Individuation, einzig die Förderung der Erlösung im Anderen, d. h. Seiner Entweltlichung, die Jedem zum vehiculum der eigenen wird, ist das Ziel dieser Ethik; ihr Subjekt nicht das konkrete Individuum, sondern nur noch sein unpersönlicher, nichtweltlicher Kern, der , der in allen identisch ist; und die Basis, die dieses Miteinander stiftet, worin seine konsitutive Begegnung stattfindet – gemeinsame Einsamkeit in der zur Fremde gewordenen Welt.“(ebd.)
10Vgl. Nietzsche: „Wir kennen alle den Rausch, als Musik, als blinde sich selber blendende Schwärmerei und Anbetung vor einzelnen Menschen und Ereignissen [...] Es giebt auch eine gewissen excentrisch werdende Bescheidenheit, welche das Gefühl der Leere selber wieder wollüstig empfinden läßt: ja einen Genus an der ewigen Leere aller Dinge, eine Mystik des Glaubens an das Nichts und ein Sich-Opfern für diesen Glauben.“ (KSA 11,25[13]).
11Ein Fremdenlied. Aus: „Mandäische Liturgien“. Zitiert nach Hörmann (Hg), S. 88-90. Vgl. Ginza XV 20: „Du warest nicht von hier, und deine Wurzel war nicht von der Welt. Das Haus, in dem du wohntest, dieses Haus hat nicht das Leben gebauet ... Du, verehre und preise den Ort, aus dem du gekommen bist.“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen